Wenn Schnitten alt werden…
Mittwoch, April 29th, 2009 | Author: admin
Jeder kennt das: den Blick hinter die dicken Glasscheiben der Kühltheke, wo einstmals frische, knackige Salatblätter, sahnige Käsescheiben und saftige Kuchenstücke nun traurig, trocken, schlaff und leblos vor sich hingammeln. Aus einst hinreissend appetitlichen Schnitten, die einem das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen, hat die Zeit erbarmungswürdige, alternde Trosthappen gemacht.
Ja, wenn Schnitten alt werden ist das ein bisschen traurig. Erst neulich traf ich vor dem Bäcker meines Vertrauens den Traum meiner schlaflosen Teenagernächte. Vor zehn Jahren war ich zu jung und er zu cool und schön, und nun ging er an mir vorbei wie ein gefallener Gott, mit weichendem Haaransatz, aufgeweichten Gesichtszügen, formloser Figur und ohne den einstigen stechenden Blick der sämtliche Mädchenherzen hatte höherschlagen lassen. Entthrohnt, menschlich, weckte dieser Anblick eine gewisse Nostalgie in mir, die ein klein wenig wehmütig auf die überzogenen Ideale der Jugend zurückblickte.
Es ist eine ganz bestimmte weibliche Melancholie, die wir empfinden wenn wir die Götter unserer Jungmädchenträume nun in der schnöden Realität vor uns sehen, einerseits wehmütig ob der vergangenen Perfektion, andererseits in zufriedener Einheit mit der Wirklichkeit, die uns ja dann schliesslich doch nichts Elementares verwehrt hat…
Was die Zeit aus Männern macht… da hört man viele Leute sagen dass Männer beständiger altern und länger schön bleiben – dies gilt aber nur wenn man den drastischen Verfall in den Dreissigern nicht mitzählt! Es geht nicht darum die Männerwelt zu kränken oder schlecht dastehen zu lassen, vielmehr ist es notwendig die Bedeutung dieser Metamorphose zu erkennen.
Es gibt eine idealistische Zeit in der Jugend, in der man glaubt dass die langen, kraftvollen und voluminösen Haare gottgleicher junger Musikerschnitten so unvergänglich und ewig sind wie das Universum selbst. Doch ab einem gewissen Zeitpunkt setzt bei fast allen langhaarigen Männern eine mythologische, quasi Samson-ähnliche Selbstentmachtung ein, wobei die Haare abgeschnitten und der Halbgott seiner Kraft beraubt wird.
Mein Freund spielte einmal in einer Metalband, das ist zehn Jahre her. Seine Bandmitglieder haben alle Bierbäuche, kurze Haare und Doppelkinne. Einmal bekam ich ein altes Fotoalbum in die Hand. In den Schwarzweissbildern wurde plötzlich eine Vergangenheit lebendig, die einem voll sexueller Energie, Macht und Musik entgegensprang…allein der Anblick wehender (ein Drittel des Bildteils einnehmender) langer Haare, gemeisselter Körper und Gesichtszüge voller Tiefe und Schönheit könnten jede Siebzehnjährige in Ohnmacht fallen lassen, was wohl damals auch passiert ist. Was zwischen Damals und Jetzt passiert ist, erscheint dagegen fast unbegreiflich.
Nur meine erste große Liebe sieht noch genauso aus wie früher, die Haare länger und gepflegter als je zuvor. Als wir uns neulich trafen, schien es als hätte sich nichts verändert. Und genau das war das eigentlich Gruselige. Er raucht immer noch 200 Zigaretten in der Woche, ernährt sich ausschliesslich von Tiefkühlprodukten und arbeitet in derselben Kneipe wie früher. Aber was wird aus ihm in zwanzig Jahren?
Der Leichtsinn der Halbgötter hat etwas Verruchtes, aber jede Hybris rächt sich schliesslich und man kann nicht ungestraft jahrelang Drogen nehmen und Mädchenherzen brechen. Vielleicht muss dieser erste Schritt, der erste Verfall, die mythologische Entmachtung, stattfinden um ein späteres Altern in Würde überhaupt zu ermöglichen, und die wahre, echte und vor allem selbstverdiente (nicht von der Jugend mit diabolischer Hinterlist verschenkte) Schönheit kommt erst dann zum Vorschein…
Sehr schön, vielen Dank, ich werde noch darüber nachdenken…
Ich überlege gerade, was mit meinem Herzblatt passiert – weichende Haare, check, aber mit einem Gesicht wie ein 15jähriger. Wenn er das bißchen Kinnbart (zuwenig auf der Oberlippe und an den Seiten reicht es schon gar nicht für ein paar anständige Kotletten) abrasiert, wird er beim Bierkauf nach dem Ausweis gefragt. Er ist 28.
Ich sage dazu nur: Die Milchgesichter von gestern sind die Götter von Morgen
Für mich ist er heut schon Gott.