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Winterträume

Dienstag, November 23rd, 2010 | Author:

Auf dem Weihnachtsmarkt schlendern Polizeieinsatzkräfte herum – also nicht die mit Uniform, sondern mit Kampfanzug. Sie sind jung, gutaussehend und gut gelaunt. Mittagspause bei einem Apfel im Schokomantel? Oder sind sie etwa im Dienst und passen auf, dass niemand einer Oma die Handtasche klaut? Ich stelle mir vor, wie plötzlich eine wilde Verfolgungsjagd ausbricht und die beiden jungen Polizisten fit und fidel einen Verbrecher durch zerberstende Stände voller Kerzen, Silberschmuck, Strickwaren und Süßigkeiten jagen. Sehr schön.

Mein erstes Konzert: nächsten Freitag. Ins Hemd machen ist eine gelinde Bezeichnung für meinen Gemütszustand. Ich gucke Castingshows mit minderbegabten, dicken, pickeligen, amerikanischen Teenagern um mein Ego zu stärken. Zusätzlich werden gerade alle Leute um mich herum von einer feisten Grippewelle umgeworfen, und ich kann von Glück sagen, dass ich nur ein bisschen heiser bin, was jedoch auch alles andere als förderlich ist… Vielleicht helfen noch mehr Stricksocken.

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“Blödsinnige Idee”

Sonntag, Juli 25th, 2010 | Author:

Nach einer arbeitsintensiven Woche gibt es kaum etwas Besseres, als so richtig zu rocken. Musik, Menschen, deren erhitzte Körper sich berühren, Massenekstase. Der Gedanke daran lässt mir jetzt einen kalten Schauer den Rücken hinunterlaufen. Das Ruhrgebiet ist eine Brutstätte von Festivals und Kulturveranstaltungen, es ist warm und wir sind durstig nach Begeisterung, Bewegung, Berührung. Dann die Loveparade, nur wenige Kilometer, ein paar lächerliche Zugminuten entfernt und auf vertrautem Boden. Rob ruft an: “Wir sind in Duisburg, kommst du?” Aber D., mit dem ich verabredet bin, kann sich nicht für die Musik erwärmen. Ausserdem weiss er nicht, was er von dieser “blödsinnigen Idee” halten soll, in einer winzigen Stadt mit gerade mal 400.000 Einwohnern eine Million Menschen zusammenströmen zu lassen.

Ich war auf der Loveparade in Berlin, als ich fünfzehn war. Ab Bielefeld, so sagte man uns, müsst ihr durch die Zugfenster einsteigen. Und so ist es. Der Zug ist hoffnungslos überfüllt, alle wollen mit, der Bahnhof ist voll mit Menschen, aber wir werden durch die Fenster hineingezogen zu den anderen, die schon auf Gepäckablagen, auf Sitzlehnen und aufeinander hocken und feiern. Als wir nachts zurückwollen dauert es viele Stunden um überhaupt aus der Stadt herauszukommen… Nach so vielen Jahren Loveparade sollte man denken, dass die Veranstalter ein Gefühl für Massendynamik entwickelt hätten. Aber es ist eine unberechenbare, forcierte Wanderveranstaltung geworden, und Berlins breite Straßen und Parkanlagen sind nicht das Gleiche wie ein abgesperrter Güterbahnhof in einer kleinen Stadt, sagt auch Loveparade-Gründer Dr. Motte, der schon länger nichts mehr mit der Veranstaltung zu tun haben will…

Ich bin zu Hause, als die Sirenen einsetzen, und dutzende Polizei- und Krankenfahrzeugen durch meine Straße fahren. Warum, wohin kann ich nur ahnen. Im Gedränge ist Jona, der mir mal sieben Stunden am Stück auf seiner Wandergitarre vorgespielt hat. Es gibt nur einen Zugang durch eine Unterführung zum Festivalgelände, es drängen immer mehr Menschen nach, doch es ist schon zu voll. Die Polizei fängt an Leute zurückzudrängen, viele wollen auch gehen, doch im Tunnel ist es schon so voll dass man kaum noch durchkommt, erzählt Jona. Überall sind Absperrungen, Wände, Tunneldecken, Menschen. Die Leute werden ängstlich, wütend, hysterisch, fangen an übereinander zu steigen, es gibt kein vor und kein zurück, aber die Polizei versucht weiter die Absperrungen zu kontrollieren. Jona schafft es gerade noch so, herauszukommen bevor die Panik vollends losbricht. Nur fünf Minuten später sterben die ersten Menschen.

Rob und die anderen sind in einer Nebenstraße bei einer Pizza versackt. Jona sagt die Polizei hätte nicht so viel Druck und Kontrolle ausüben dürfen. Die Welt sagt die Polizei wollte von Anfang an mehr Zugänge, aber das war wohl zu teuer. Ich suche in den Bildern nach den Gesichtern von Freunden.

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Post in da haus

Freitag, März 12th, 2010 | Author:

Es klingelte vor zehn Minuten. Normalerweise kommt niemand um diese Uhrzeit einfach vorbei. Genaugenommen tut das auch sonst niemand, diese soziale Unverblümtheit ist durch das Mobiltelefon leider ausgestorben. Selbst die Kinder klingeln nicht mehr irgendwo: “Kann die Nina zum spielen rauskommen?” Nein, man schreibt SMS hin und her: “Kannst du heute spielen?” – “Ich frag mal meine Mutter.” “Ja, aber erst später. Soll ich dann vorbeikommen?” “Ja, aber ruf vorher nochmal kurz an.”

Nur die Post kommt noch einfach so vorbei, ohne anzurufen. Manchmal kommen sie auch nicht und schmeissen dann Zettel rein, dass man nicht dagewesen wäre, und deswegen zwei Stunden auf dem Postamt stehen muss um etwas abzuholen von dem man nichtmal weiss was es ist. Aber so ist das nunmal. Als es also klingelte, wusste ich es ist die Post und machte die Tür auf. Normalerweise ruft es dann immer: “Po-ost.” Doch jemand kam die Treppe hinauf. Ein unerwartetes Paket? Kriegt man da nicht normalerweise einfach einen Zettel?

Ich geh mal gucken. Es sind mindestens zwei, sie wollen eindeutig zu uns nach oben. Durch das Treppengeländer sehe ich einen Typen mit kahlrasiertem Kopf und mit Lederjacke. Undeutlich Aufdrucke und Buttons auf der Lederjacke, das Rasseln von Ketten und Metall. Ich überlege ob wir einen Baseballschläger in greifbarer Nähe haben, und ob es im Notfall auch ein Federballschläger tut.

Es sind nur Polizisten. Sie wollen nur Bescheid sagen, dass sie nochmal im Haus sind. Warum? Wegen Kurt, der wahrscheinlich Drogen nimmt? Wegen dem Drummer, der wahrscheinlich Drogen verkauft? Wegen dem stillen Bahnangestellten, der aussieht als würde er illegale Filme gucken? Gehört die neueingezogene Russin vielleicht zur Mafia? Oder ist es doch wegen dem Typen, der bei uns im Keller wohnt? Ich hab ihn nie gesehen, nur schnarchen hören…

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