Brockhaus siegt!
Samstag, Juni 25th, 2011 | Author: admin
Es gibt Leute, die so weit gehen würden zu sagen, dass die ständige und ortsunabhängige Nutzung des Internets zur fortschreitenden Verdummung unserer Bevölkerung führt, weil man alles direkt nachgucken kann und niemand mehr nachdenken oder selber Lösungwege erschließen muss.
Ich kann das nicht beweisen, halte das aber auch durchaus für möglich und nicht erstrebenswert. Schon gar nicht, wenn man auf einer Party ständig sein Smartphone rausholen muss, weil “smarter content” nicht mehr vom eigenen Hirn bereitgestellt wird. Der Spruch “Männer denken mit dem Schwanz” muss ja mittlerweile auch “Männer denken mit dem Smartphone” heissen…
Und überhaupt: Was ist wenn das System mal zusammenbricht? Ich oute mich hiermit offiziell als Systemskeptiker. Ja, ich mache Hamsterkäufe, ziehe Tomaten auf der Fensterbank um einen weiteren Schritt in Richtung Selbstversorgung zu gehen, mache Sport für den Ernstfall statt für die Figur und lese Survivalbücher. Je komplexer die Technik wird, desto weniger Ahnung haben wir doch wie sie funktioniert. Das merkt man mal so richtig, wenn beim niegelnagelneuen Auto die Elektronik streikt und plötzlich gar nichts mehr geht. Ja, da kann man nicht einfach beim nächsten Schrauber für ‘nen Appel und’n Ei alles wieder heile machen lassen, nein, da muss man in die teure Fachwerkstatt und die schicken die Karre erstmal ein…mit DHL oder so.
So, nun kam auf der letzten Party die Frage auf, ob Marienkäfer Zwitter seien. Ein Mensch holte sofort sein Smartphone raus, um der Sache auf den Grund zu gehen. Während meine bessere Hälfte (angehender Lehrer) davon inspiriert einen glühenden Vortrag über den Nutzen von Nachschlagewerken hielt, bemerkte Udo plötzlich: “Da steht ein Brockhaus im Regal.” “Gib mal her.” forderte der Mann, während der Benutzer des klugen Telefons noch an Selbigem herumfummelte und “Ich habs gleich!” sagte.
“Nee, Marienkäfer steht bestimmt nicht im Brockhaus.” meinte ich. “Dann müssten ja auch alle anderen Käfer drinstehen, und Vögel und Pflanzenarten… das ist bestimmt zu speziell,” Udo sah uns zögerlich an ob wir uns einigen würden, kontemplierend ob er das Risiko eingehen sollte, das seltsame Buch umsonst aus dem Regal zu hieven.
“Mann, wieso lädt der denn jetzt so langsam? Was ist denn hier für ein Scheiss-Empfang?” schimpfte der Benutzer des klugen Telefons. Der Mann sagte zu Udo:”Komm schon, gib jetzt mal her dem Papa.” Udo holte den Brockhaus aus dem Regal, und mit einem Griff hatte der Mann den Buchstaben K aufgeschlagen, zwei Seiten umgeblättert und zitierte: “Der Marienkäfer ist ein halbkugeliger Käfer…Fünfpunkt, Siebenpunkt… Die Larven der Männchen… AHA! Also: keine Zwitter.”
“Hab ich doch gesagt.” sagte ich.
“Jetzt hab ichs auch, ich habs auch!” schrie der Benutzer des klugen Telefons, doch es war viel zu spät. Der Brockhaus hatte gesiegt.
Als jemand der besagten Gattung, der nur noch mit den zwei besagten Dingen denkt muss ich mich dazu äußern .
Ich sehe es so, dass die fortschreitende Vernetzung und Verlagerung ins Mobile das widerspiegelt, was den Menschen ausmacht: Wir haben eine Aufgabe, müssen sie lösen, haben unsere Werkzeuge. Wir entwickeln bessere und schnellere Werkzeuge, wir lösen unsere Aufgaben besser usw.
Internet und Smartphones erschaffen nicht unbedingt neue Aufgaben, aber Sie helfen uns besser zu werden. Du hast doch zumindest ein “normales” Handy, oder? Früher mussten wir uns zu festen Zeiten an festen Orten verabreden und das Kinoprogramm in der Zeitung schauen, den ersten Satz bei einem Anruf “Wo bist du gerade” gab es nicht. Und das wir nun mit den Geräten auch Busverbindungen und Kinoprogramm ansehen können ist nur ein weiterer kleiner Schritt, der lange vor Smartphones begonnen. Aber bestimmt nicht die Entkopplung unseres Hirns. Und auch wenn von heute auf morgen Internet und Mobilfunk ausfallen, werden wir uns schnell wieder auf die Techniken die da vor waren zurückbesinnen. Außer natürlich die Infrastrukturen, die zu 100% darauf aufsetzen
Naja, sagen wir so: Die modernen Techniken können uns natürlich verdummen, wenn wir blind fressen, was uns vorgesetzt wird. Lassen wir uns vom Algorithmus des Facebook-Nachrichtenstreams die Neuigkeiten vorsortieren, oder suchen wir (zusätzlich) selbst nach Informationen? Gucken wir nur einmal am Tag in die Bild-App oder lesen wir quer durch alle Nachrichtenseiten und Blogs um uns ein umfassendes Bild zu machen? Verlassen wir uns auf die Wikipedia-App, oder greifen wir auch mal zu Alternativwerken?
Grundsätzlich bietet jedes neue Werkzeug die Gefahr, dass man sich zurücklehnt und die Technik alles machen lässt, aber das Smartphones uns verdummen ist zu einfach gedacht und auch nicht der Ursprung der Verdummung. Sowas gab es auch schon vor den Smartphones. Für speichelfadenziehende RTL2 Zuschauer oder Liverollenspieler mit Realitätsverlust braucht man keine Smartphones, die haben sich auch ohne Web2.0 aus der Realität entkoppelt.
Du gehst aber von ziemlich aufgeklärten Usern aus Du hat natürlich Recht, und der Eintrag ist etwas polemisch. Wollte ich das Thema differenziert behandeln, müsste ich ein Buch schreiben. Ich mache mir auch nicht ernsthaft Sorgen um Verdummung, und weiss sehr wohl die Vorteile mobiler Kommunikation zu schätzen. Dennnoch sehe ich auch psychologische und soziale Veränderungen die zu Schnellebigkeit, Stress und sozialer Fragmentierung und Isolation führen, was viele leider heute schon normal finden. Aber solche ernsten Themen sollte man lieber bei einem Bier besprechen.
Wieder mal auf den Punkt getroffen! Hab schon lang gewartet, dass mal wieder einer deiner Blogs kommt… Man kriegt Entzugserscheinungen!
Jedenfalls witzig und genau beobachtet!
Ich finde es sehr schön dass du überhaupt mal wieder etwas schreibst
Noch ein kleiner Nachtrag: Vielleicht macht es nicht dumm, aber zumindest vergesslich… http://karrierebibel.de/google-effekt-das-internet-macht-vergesslich/#more-36302